VNV Nation (Foto: Franz Scheppers)

VNV NATION „Ich bin doch kein Schaf, das sein Gehirn abschaltet“

„2007 wird unser Jahr!“ Diese Prognose wagt Ronan Harris, Mastermind von VNN Nation, in unserem Interview. Und die Zeichen stehen in der Tat auf Erfolg: Eine neue Platte mit neuen Einflüssen, eine echte Welttour („außer Antarktis und Hawaii“). Und eine hoch motivierte Band. Ein bestens gelaunter Ronan Harris plauderte nach wie vor in Englisch – auch wenn er seit mittlerweile sechs Jahren in Hamburg lebt. Auf Deutsch hätte sein Redefluss wohl auch nicht annähernd dieses an Lichtgeschwindigkeit grenzende Tempo.

Nord bei Nordost: Ronan, wie fühlst du dich am Ende des dritten Interviewtages?

Ronan Harris: Oh, sehr gut. Dies ist heute mein fünftes Interview. Und es kommen noch mehr. Aber als Ire mag ich gute Konversationen.

Nord bei Nordost: Ist VNV Nation nach wie vor Teil der Gothic-Szene?

Ronan Harris: Ja… Ich bevorzuge allerdings den Begriff „Schwarze Szene“. In den Achtzigern waren Gothic und elektronische Musik zwei vollkommen verschiedene Dinge. Und in meinem Kopf sind sie es nach wie vor. Aber die Leute hier sehen uns nun mal als „Gothic“. In Amerika ist das anders, dort betrachtet man uns als „Alternative-Electro-Rock-Band“. Das Publikum auf den Konzerten dort ist auch viel gemischter.

Nord bei Nordost: Das neue Album „Judgement“ wurde angekündigt als „einzigartiges und kraftvollstes Album überhaupt.” Vorab-Versprechen wie diese hört man immer wieder über Neuerscheinungen – oft ist man beim Hören dann aber enttäuscht. Was speziell ist denn so einzigartig und kraftvoll an “Judgement” im Vergleich zu euren früheren Platten?

Ronan Harris: Das Zitat stammt nicht von mir. Ich würde „Judgement“ als eines der einzigartigsten und kraftvollsten Alben bezeichnen, die wir gemacht haben. Ich finde, dass man bei “Judgement” vom Beginn an in einen Strudel verschiedenster Gefühle und Atmosphären gezogen wird. Und das bleibt so bis zum Schluss. Es ist nicht nur eine Sammlung von Songs, sondern ein echtes Album. Alles passt zusammen… Es ist genau so emotional und kraftvoll wie „Empires“ es 1999 war. Mir hat die Arbeit an „Judgement“ einen Riesenspaß gemacht, es war mehr als einfach nur ein Job. Nachdem die Platte fertig war, hatte ich – zum ersten Mal seit „Empires“ – nicht eine Sekunde das Gefühl, ich hätte irgendetwas anders machen sollen.

Nord bei Nordost: Welchen Einfluss hatte Mark, die andere Hälfte von VNV Nation, auf die Entstehung des Albums?

Ronan Harris: Ich war schon immer derjenige, der die Musik geschrieben und produziert hat. Und Mark vertraut mir da auch vollkommen. Er spielt eher eine psychologische Rolle in dem Sinn, dass ich ihm die Demos schicke und mich dann mit ihm darüber austausche. Es ist ja bei vielen Bands so, dass nur einer die Musik schreibt.

Nord bei Nordost: Auf „Judgement” finden sich viele der typischen VNV-Elemente: Balladen, Hymnen, Instrumentals, technoide Stücke, deine unverwechselbaren Vocals… Was sind die Unterschiede zu „Matter and Form”?

Ronan Harris: Der Prozess des Programmierens war ganz anders: Ich habe Techniken aus den siebziger Jahren mit ganz modernen kombiniert. Ich wollte, dass die Platte wie ein Soundtrack wird. Außerdem mag ich es, neue Einflüsse in unsere Musik zu bringen. Schon bei „Matter and Form” und “Futureperfect” habe ich experimentiert. Bei „Beloved“ dachte ich, dass niemand diesen Titel mögen würde, weil er so was von poppig ist. Aber er wurde einer unserer größten Hits! Wenn ich mich an die Spielregeln der Szene halten würde, wären wir eine sehr langweilige Band. Bei Songs wie „Nemesis“ und „Testament“ dachte ich: „Mach, was du machen willst“. Die Stücke sind immer noch VNV, haben aber auch Einflüsse von Alternative- und Indie-Bands wie The Killers, Stereophonics und Interpol. Alles Bands, die Leute in der schwarzen Szene nie und nimmer hören würden. Als ich She Wants Revenge auf dem letzten WGT gespielt habe, kamen zwei DJs zu mir und meinten „What the fuck are you playing?“ Ich habe ihnen gesagt, dass ich spiele, wonach die Leute tanzen. Eine Band wie She Wants Revenge müssten viele Goths übrigens eigentlich mögen, weil es in deren Musik klare Parallelen zu den Achtzigern gibt. In Amerika ist es eine der derzeit bekanntesten Bands in der Goth-Szene!

Nord bei Nordost: Ich denke, dass man das beispielsweise bei „Nemesis“ durchaus hört. Das Stück kann problemlos als elektronischer Rocksong durchgehen. Wann werdet ihr mit Gitarren auf der Bühne stehen?

Ronan Harris: Vielleicht mache ich ja mal eine Coverversion von „Nemesis“ mit einer Rockband… Wir hatten schon einen Gitarristen mit auf der Bühne, beim Wave-Gotik-Treffen bei dem Song „Solitude“. Hinterher las ich dann in Konzertberichten: „Oh, mein Gott – eine Gitarre bei VNV!“ Vielleicht machen wir es trotzdem mal wieder bei einem Stück – aber in Amerika, weil Gitarren dort ganz anders akzeptiert werden. Die Gitarren sind ja nicht das dominierende Element, aber sie bringen neue Akzente in die elektronische Musik.

Nord bei Nordost: Die Texte spielten bei VNV Nation immer eine wichtige Rolle. Welche Geschichten erzählt „Judgement“?

Ronan Harris: Jeder Song ist eine Interpretation des Titels in immer neuen Situationen. „Judgement“ (Urteil, Urteilsvermögen, Ermessen) ist ein bedeutungsschwerer Begriff. Ich kann generell nichts singen, was keine Bedeutung für mich hat. Es geht in den Liedern auf „Judgement“ zum einen darum, wie wir persönlich mit Problemen und ihren Lösungen umgehen. Und zum anderen, wie dies in der Welt funktioniert. Da gibt es viele Parallelen. Alles, was wir tun, führt zu Konsequenzen. Die entscheidende Frage ist, wie wir damit umgehen. Es ist wie Roulette spielen: Die Landung der Kugel im Loch ist das unvermeidliche Urteil. Das gilt im Alltag genau so wie auf der spirituellen Ebene.
Ich bin sicher, dass unser Leben einen bestimmten Sinn hat. Die Suche nach diesem Sinn hat mich schon immer sehr beschäftigt. Ich habe verschiedene Antworten gefunden, die alle richtig sind. Es ist immer eine Frage der Interpretation. Jeder besitzt ein kleines Stückchen Wahrheit. Nur legen wir diese vielen kleinen Stücke nicht zusammen, um herauszufinden, was die große Wahrheit ist. Eines Tages aber steht jeder von uns vor der Frage, wer er sein will. Jeder hat die Möglichkeit, das durch seine Entscheidungen zu beeinflussen. Aber jeder muss auch mit den Konsequenzen leben. Und diese Konsequenzen sind die „Judgements“.

Nord bei Nordost: Das klingt sehr philosophisch. Woher kommen die Ideen für deine Texte? Liest du Bücher oder unterhältst du dich mit anderen Menschen oder…?

Ronan Harris: Das sind gefilterte Erfahrungen aus Gesprächen mit Menschen, von Dingen, die ich gehört und gelesen habe. Ich lese wirklich viel. Und schaue Dokumentationen und Filme, die etwas zu sagen haben. Leichte Kost mag ich überhaupt nicht. Ich würde lieber allein im dunklen Zimmer sitzen und nachdenken, als “Gute Zeiten, schlechte Zeiten” anzusehen. Ich bin doch kein Schaf, das sein Gehirn abschaltet.

Nord bei Nordost: Wenn ich mir euren diesjährigen Tourplan angucke, habe ich den Eindruck, dass ihr euch auf einen weltweiten “Erfolgskreuzzug“ begebt…

Ronan Harris: Dabei sind die Planungen noch gar nicht abgeschlossen. Wir werden in Amerika, Ost- und Südeuropa, Australien, Asien… sein. Ich glaube, wir spielen außer in der Antarktis und auf Hawaii wirklich überall. Ich denke, es wird unser Jahr werden. Wir werden viele neue Hörer gewinnen.

Nord bei Nordost: Werden sich die kommenden Auftritte von denen der letzten Tour unterscheiden?

Ronan Harris: Wir werden zwei neue Keyboarder haben. Unsere visuellen Elemente haben wir deutlich weiterentwickelt, mehr will ich aber noch nicht verraten. Auf jeden Fall werden wir alles geben, damit jeder seinen Spaß hat. Unsere Philosophie war schon immer: Wir spielen ein Konzert, das wir selbst gern sehen würden.

Mehr zu VNV Nation bei Nord bei Nordost:

CD-Rezi „Judgement

CD-Kritik: „Matter And Form“

Künstlerwebseite

 

Autor: Stefan Bast

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